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Peter Szondi war 1965 an die Freie Universität im damaligen Westberlin berufen worden und 1966 erfolgte die Gründung seines Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Zunächst tatsächlich ein Ein-Mann-Betrieb, dem „ein kleineres Haus in der Halbdistanz zu den großen Seminaren der Fakultät […],“ zugewiesen wurde, „der Kiebitzweg 23“, wie Eberhard Lämmert sich erinnert[1], „eine Adresse, die in Paris und in Zürich, aber auch in Frankfurt am Main und an der Ostküste der USA bald für ein Markenzeichen stand“ (Lämmert 1996). Nach vierjähriger Zwischenstation auf der Rheinbabenallee bezog das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 1983 eine neu-sachliche Villa am Hüttenweg[2], wo es über zwei Jahrzehnte lang seinen Sitz haben sollte. Mit dem − nach langem Widerstand unabwendbar gewordenen – Umzug in die sogenannte Rostlaube, d.h. in den Gebäudekomplex der Philologien und der Geistes- und Sozialwissenschaften auf der Habelschwerdter Allee, der in das Jahr des 75. Geburtstags von Szondi fiel, wurde das Institut umbenannt. Seit 2004 trägt es den Namen seines ersten Professors, Peter Szondi.

Grundlage meines Beitrags sind eigene Erinnerungen an meine Zeit – lange nach Szondis Tod – als Magister-Studentin und Doktorandin am Hüttenweg. Außerdem beziehe ich mich auf Erinnerungen und Einschätzungen von Szondis Mitstreiter Eberhard Lämmert (1924−2015) und von Szondis Schüler Gert Mattenklott (1942−2009). Nacheinander und auch miteinander lenkten diese beiden über viele Jahre die Geschicke des Instituts. Als Studentin saß ich in Seminaren von Eberhard Lämmert. Gert Mattenklott war mein Doktorvater. Außerdem werde ich Bezug nehmen auf den Traktat „Über philologische Erkenntnis“ von Peter Szondi. Das geschieht in der Überzeugung, dass die darin formulierten methodischen und theoretischen Positionen Jahre über seinen Tod hinaus, noch während meiner Zeit als Studentin am Hüttenweg, das Studium maßgeblich geprägt haben. Eine zentrale Rolle dabei spielte die von Szondi geforderte „Versenkung in die Werke“:

Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, daß sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in »die Logik ihres Produziertseins« erhoffen

Szondi 1970: 33f.

Wenn Erkenntnis in der Literaturwissenschaft auf einer „Versenkung in die Werke“ fußt (in die Werke als solche und zugleich in die „»die Logik ihres Produziertseins«“), muss das Studium dieser Wissenschaft grundsätzlich das Vermögen zu einer „Versenkung in die Werke“ vermitteln. Und Versenkung kann in diesem Zusammenhang nichts anderes heißen als genaues, konzentriertes, eingehendes Lesen. Mit Versenkung ist hier also ein kundiges Lesen der literarischen Werke gemeint. Ein solches Lesen ist im Studium einzuüben. So trivial das klingen mag: Die Fähigkeit Literatur zu lesen bildet die Grundlage der Literaturwissenschaft. Studieren am Hüttenweg hieß daher nicht zuletzt auch ideale Bedingungen zum Lesen vorzufinden.

Mein Beitrag umfasst drei Teile:

Lesen: Die Bibliothek

Lesen: Sprache, Sprachen, Übersetzen

Lesen: Anmerkungen zur „Leseliste des Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ (1971)

Lesen: Die Bibliothek

Das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft war mehr als zwei Jahrzehnte lang – weiterhin in einiger Distanz zu den großen Instituten – am Hüttenweg in einer 1930 erbauten eher schlichten Villa untergebracht. Auf dem umgebenden Grundstück befand sich der sogenannte Schnellbau, eine Art Container, in dem sämtliche Seminare, Disputationen und Gastvorträge stattfanden, entweder im kleinen Seminarraum oder im großen Seminarraum. Außerdem waren im Schnellbau Büros untergebracht[3], weitere Büros sowie das Instituts-Sekretariat befanden sich im Haupthaus. Dessen ehemalige Wohnräume der ersten Etage und der sich anschließende Wintergarten beherbergten unsere Bibliothek, die sich mit ihren vielfältigen und frei zugänglichen Beständen bis in die Kellerräume ausdehnte. Zwar gewiss aus anderen Gründen, aber dennoch fühlten auch wir uns als „Miteigentümer und Mitverwalter des hier verfügbaren Wissens“, wie Lämmert es für die ersten Studienjahrgänge am Kiebitzweg konstatiert. Und sicher habe nicht nur ich mit einem der kostbareren Bücher in der Hand bisweilen daran gedacht, wie diese Bibliothek, die durch ihren „einzigartigen Zuschnitt“ zur geistigen Anziehungskraft des Instituts beitrug, ursprünglich „mit besonderer Kennerschaft zusammengestellt“ worden war. Wie wir wussten, hatte Szondi mit seinen Schülern und auch mit seinem Kollegen Lämmert „Streifzüge durch Antiquariatskataloge und Antiquariate, [unternommen], um dieser Bibliothek ein literatur- und kunsttheoretisch eigenständiges Profil zu geben, und [Lämmert] hatte noch im Ohr, wie jeder Titel danach gewogen und mancher zu leicht befunden wurde“ (Lämmert 1996).

In der Zusammenstellung ging es also gerade nicht um eine auf diese oder jene Weise definierte Vollständigkeit, sondern vielmehr um den „einzigartigen Zuschnitt“, um das „literatur- und kunsttheoretisch eigenständige Profil“ der Bibliothek des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Das sei hier auch deshalb betont, weil derselbe Anspruch meines Erachtens auch der Leseliste zugrunde liegt, von der noch genauer die Rede sein wird.

Parallel zur theoretischen Ausrichtung ging es darum, so Lämmert weiter, einen „literarischen Kosmos“ entstehen zu lassen:

Denn für Studenten der Literatur gilt wieso ausdrücklich für kein anderes Fach [Hervorhebung M. Z.], dass eine Bibliothek für sie eben nicht nur die Forschungsliteratur zu ihrem Gebiet, sondern – wie für den Archäologen die Ausgrabungsobjekte oder für den Chemiker die mineralischen oder organischen Substanzen – die Objekte der Erforschung selbst in Manuskript- und Buchform bereit hält

Lämmert 1996

Nachdem der Umzug vom Hüttenweg in die Rostlaube Anfang der 2000er Jahre beschlossen war, kostete es einige Anstrengungen diese – in Struktur und Grundbestand auf Szondi zurückgehende – Bibliothek mit ihrem „eigenständigen Profil“ vor der Auflösung zu bewahren: Die Bestände sollten in dem 2005 fertiggestellten Neubau der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin den Einzelphilologien zugeteilt werden. Die Absicht einer solchen Zerstreuung ignoriert (unbewusst?) das sowohl für das Studium als auch die Forschung wertvolle, gut komponierte Ganze einer Spezialbibliothek wie dieser, die selbstredend „mehr war als nur die Sammlung von Büchern“ (Schmitz in Albers 2016: 209). Schließlich gelang es immerhin, die Bibliothek des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft als integralen Bestandteil in die große neue Bibliothek zu überführen und die Bestände in einem eigenen Bereich gemäß der alten Systematik aufzustellen. Als ich dort die ersten Male an den Regalreihen unserer Bibliothek entlangging, glaubte ich den mit meinen Erinnerungen verbundenen Geruch der Bücher und Bibliotheksräume am Hüttenweg noch wahrzunehmen. Inzwischen hat er sich gewiss verflüchtigt. Weitaus schlimmer aber ist, dass sich nach und nach auch die Bestände selbst verflüchtigen werden, „indem sie aufgehen in der Aufstellungssystematik der Philologischen Bibliothek wie Regentropfen im Ozean (Schmitz in Albers 2016: 209).

Lesen: Übersetzen

Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft lässt sich nur mit Kenntnis mehrerer Sprachen studieren. Das waren noch zu meiner Studienzeit, wie zu Zeiten Szondis, zumindest (oder zumeist) die Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch sowie weitere romanische Sprachen[4]. Um zum Hauptstudium des Magisterstudiengangs zugelassen zu werden, war aus diesem Grund das erfolgreiche Absolvieren von zwei Übersetzungsklausuren vorgeschrieben. Es war ein literarischer Text aus dem Englischen zu und einer aus dem Französischen (oder aus einer oder zwei anderen romanischen Sprachen) ins Deutsche zu übersetzen. Das waren, soweit ich mich erinnere, mehrere Seiten aus Romanen des 19. Jahrhunderts. Diese Klausuren dauerten fünf Stunden und es durfte ein einsprachiges Wörterbuch zu Hilfe genommen werden. Zur Vorbereitung auf diese Übersetzungsklausuren dienten die Klausuren aus den vergangenen Jahren, Romanpassagen, die auf hektographierten Blättern im Vorraum der Bibliothek in einer der Schubladen des großen Schreibtisches verwahrt waren. Damit übte man das Übersetzen. Und zwangsläufig auch das Lesen, indem man sich in Auszüge aus Romanen von Flaubert, Hawthorne und anderen vertiefte.

Am Ende dieses knappen zweiten Teils meines Beitrags will ich noch kurz auf die Bedeutung der Bibliotheksräume am Hüttenweg eingehen: Hinter dem erwähnten großen Schreibtisch im Vorraum zur Bibliothek saß in der Regel eine studentische Hilfskraft, die für Aufsicht und (Wochenend- und Ferien-)Ausleihe zuständig war. Um diesen Tisch herum trafen sich in ungezwungener Weise alle, die am Hüttenweg ein und ausgingen, Student*innen, Professor*innen und Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen. Neben dem Schreibtisch war die Eingangstür zu den eigentlichen Bibliotheksräume, in denen wir Student*innen unsere Bücher lesen und „auf relativ kleinem Raum [unser] Fach sinnlich erfahren und dargestellt finden [konnten]“, wie es in dem „Beschluß des Institutsrates des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft vom 28. Januar 1993“ hieß, mit dem „die Eingliederung des Instituts in die Rostlaube“ einstimmig abgelehnt worden war (Faksimile des Typoskripts in Albers 2016: 208).

Lesen: Anmerkungen zur „Leseliste des Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ aus dem Jahr 1971[5]

Als ich im Herbst 1986 zum Studium nach Westberlin kam, gab es am Institut noch eine Leseliste. Verbindlich war diese jedoch nicht mehr. In der damals gültigen Studienordnung hieß es: „Für die individuelle Lektüre gibt eine am Institut ausgearbeitete Leseliste Orientierungen vor.“ Diese lange Leseliste konnte man, meiner Erinnerung nach, ebenfalls in der Bibliothek des Instituts am Hüttenweg einsehen. Als Studentin registrierte ich die schiere Anzahl der aufgelisteten Namen und Titel mit einiger Unruhe – die Liste war seit Szondis Zeiten erheblich angewachsen. Ich hatte die Erweiterungen um die italienische und die spanische Literatur eigentlich nicht weiter zu beachten, weil ich mein Studium mit deutscher, englischer, amerikanischer und vor allem französischer Literatur bestritt. Dennoch konnte einen das Wissen um das bloße Vorhandensein dieser Liste wie ein bedrohlicher und furchterregender Schatten verfolgen. Welchen Umfang die Leseliste angenommen hatte, bis sie nach ihrer letzten Version von 2004 schließlich verschwand, ist mir nicht bekannt. Auch nicht, ob es eine auf Szondis Leseliste zurückgehende Liste war, die am Institut immer weiter und weiter angestückelt wurde, was meines Erachtens an der unter Szondi ausgearbeiteten Liste vorbei gedacht gewesen wäre.

In der Studienordnung aus dem Jahr 1971 hieß es zur Leseliste von Szondi:

Das Institut stellt den Hauptfachstudenten eine Rahmenleseliste mit Alternativtiteln zur Verfügung. Aus ihr kann jeder einzelne Student innerhalb der verschiedenen Gattungen und Epochen der von ihm studierten drei Literaturen seine eigene, der Breite nach aber festgesetzte, Auswahl treffen. Die Lektüre muß bis zum Ende des Hauptstudiums abgeschlossen sein. Ein Exemplar der Liste wird mit Unterstreichung der Titel, die gelesen worden sind, abgegeben. (Übergangsbestimmung: Bis zwei Jahre nach Fertigstellung der Leseliste kann auch die alte Literaturgeschichtsprüfung abgelegt werden, die eine Klausur über Werke und Autoren der englischen, französischen und deutschen Literatur seit der Renaissance vorsieht.)

Zur zitierten Übergangsbestimmung ist zu bemerken, dass laut der Annalen des Instituts besagte Klausur, mit 90 Fragen, im Studienjahr 1967 niemand bestanden hat. An die Stelle dieser anspruchsvollen literaturgeschichtlichen Prüfung trat schließlich eine 13 Seiten umfassende Leseliste. Das könnte die Deutung nahelegen, diese Leseliste von 1971 sei als ein „Kanon“ zu verstehen, der „Literaturgeschichte verdichtet abbildet“ (Metz in Albers 2016: 93−95.). Doch scheint die Gleichung allzu simpel: Die literaturgeschichtliche Klausur wird abgeschafft, eine Leseliste wird eingeführt, also stellt die Leseliste Szondis einen Kanon, ein verdichtetes Abbild von Literaturgeschichte dar. Zumal in dieser Gleichung die Debatten um die Einrichtung eines Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft getilgt sind. Lämmert erinnert daran, dass Mitte der 1960er Jahre der so schlicht erscheinende der Zusatz „Allgemeine“ zur Benennung des Fachs Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft von vielen Seiten „mit äußerstem Misstrauen“ gesehen wurde, weil man darauf bestand, dass „philologische Forschung partout historisch anzulegen sei“. Und als Erklärung fügt er hinzu:

Um das heute zu verstehen, muss man wissen, dass bereits das Wort »Literaturwissenschaft« gegenüber »Literaturgeschichte« als Reizwort aufgefasst wurde, weil damit eine historisch gedachte Disziplin sich den Anschein gab, als habe ihr Gegenstand Anspruch auf eine eigene Theorie und definiere sich nicht allein von seinem historischen Ursprung her […]

Lämmert 1996

Wäre es nicht interessant die Leseliste von 1971 vor dem Hintergrund dieser Debatten neu vorzunehmen. Könnte es nicht erhellend sein diese Liste als Versuch einer Synthese der einander zunächst widerstrebend erscheinenden Aufgaben zu sehen, denen sich die Literaturwissenschaft stellen muss: Einerseits das Erfordernis allgemeine Regeln und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und zu formulieren, andrerseits, und recht eigentlich, aber Texte zu verstehen, d.h. in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen. Den Vorschlag einer solchen Lektüre der Liste mache ich unter Berufung auf Gert Mattenklott, der in seinem Porträt „Peter Szondi als Komparatist“ die Überzeugung vertritt, Szondi habe die in seinem Traktat „Über philologische Erkenntnis“[6] vertretene Position zur Historizität von Werken der Kunst nie verlassen und habe ebenso an seiner „Forderung einer Philologie als einer Wissenschaft vom Besonderen“ festgehalten (Mattenklott 1983: 134). Eine der Aufgaben der Literaturwissenschaft ist es nach Szondi „vom Einzelwerk abstrahierend zur Übersicht über eine mehr oder weniger einheitliche Periode der historischen Entwicklung zu gelangen.“ (Szondi 1970: 22) Methodisch gilt dabei, dass diese „Überschau indessen erst aus der Summe des begriffenen Einzelnen hervorgehen [darf]“, und dass diese „Erkenntnis des Besonderen“ klar zu unterscheiden ist von der „Subsumtion [des Besonderen] unter ein historisch Allgemeines.“ (ebd.: 23) Die „Erkenntnis des Besonderen“ wiederum ist aufs engste verbunden mit der eigentlichen Aufgabe der Literaturwissenschaft:

Sobald die Literaturwissenschaft ihre eigentliche Aufgabe im Verstehen der Texte sieht, verliert der naturwissenschaftliche Grundsatz des »einmal ist keinmal« seine Geltung. Denn die Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare

ebd., 21

Die hier formulierte kritische Abgrenzung der Literaturwissenschaft gegen die Literaturgeschichte schließt jedoch, wie Szondi im Weiteren betont,

keineswegs die These ein, das einzelne Werk sei ungeschichtlich. Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so daß einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt

ebd.: 22

Zwischen der eigentlichen Aufgabe der Literaturwissenschaft, dem Verstehen der sich als Individuen gebenden Texte und der anderen Aufgabe, vom einzelnen Werk abstrahierend zur Überschau über eine Periode der historischen Entwicklung gelangen, vermag die eigentliche Grundlage dieser Wissenschaft, das Lesen, zu vermitteln.

„Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, daß sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in »die Logik ihres Produziertseins« erhoffen.“

ebd.: 33f.

Mit diesem Zitat, dem Verweis auf die grundlegende Rolle der „Versenkung in die Werke“, schließt sich der Kreis zum Anfang meines Beitrags. Es sollte klar geworden sein, dass die Leseliste von 1971 keineswegs ein im Lauf der Zeit so oder anders erweiterbarer Kanon ist. Denn hieße das nicht, die darin aufgeführten Werke im Sinne der Literaturgeschichte zu Exemplaren zu reduzieren, d.h. ihre Besonderheit zu verkennen? Scheint es der von Szondi in seinem Traktat formulierten methodisch-theoretischen Ausrichtung nicht viel eher angemessen die Leseliste als ein fein austariertes Instrument zu deuten, als ein Organon für die damaligen Studierenden des sich gerade erst konstituierenden Fachs Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft?

Um meinen Vorschlag einer Lektüre der Leseliste ein wenig zu konkretisieren, folgen nun ein paar knappe Kommentare zur Struktur und vor allem zur ersten Seite dieser Liste sowie zu einer weiteren Seite, auf der Werke der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts aufgelistet sind.

Der Klarheit halber sei vorausgeschickt, dass es sich um eine Liste handelt, die ausschließlich literarische Texte umfasst.

„LESELISTE DES SEMINARS FÜR ALLGEMEINE UND VERGLEICHENDE LITERATURWISSENSCHAFT [handschriftlich hinzugefügt] (FU – Berlin)[7]

Den Anfang der deutschen Literatur des „15., 16. und 17. Jahrhunderts“ bilden „Proben aus den Volksbüchern Till Eulenspiegel, Historia von D. Johann Fausten …, Fortunatus und seine Söhne“. Diese sind jeweils mit der Nummer 1 versehen, es war also nur eines dieser drei Bücher zu lesen (vgl. Anh. 1). Der erste namentlich genannte Autor deutscher Sprache ist Martin Luther, wobei als einziges seiner Werke eines aufgeführt ist, das man im Literaturlexikon vergebens suchen wird[8] – Luthers „Bibel“. Diese – und wohlgemerkt keine andere – Übersetzung des Alten und des Neuen Testaments war in Auszügen zu lesen. Für die „Englische Literatur“ galt als Pflichtlektüre „The English Bible, King James Version (Auszüge)“. Beide Bibelübersetzungen sind gewiss (auch) im Hinblick auf „»die Logik [des] Produziertseins«“ (Szondi 1960: 34) von Werken der deutschen, respektive der englischen Literatur als grundlegend anzusehen[9].

Man kann die Leseliste insgesamt danach durchsuchen, welche Werke unbedingt zu lesen waren, welche davon ganz und welche in Auszügen. Obligatorisch für die deutsche Literatur des „15., 16. und 17. Jahrhunderts“ waren neben der Lutherbibel u.a. ebenfalls in Auszügen „der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch…“ sowie Auszüge aus der Lyrik einer ganzen Reihe von Autoren des Barock; genannt werden hier, geordnet nach ihrem Geburts- bzw. Taufjahr, Weckherlin, Opitz, von Spee, Fleming, von Logau, Gryphius, Hofmann von Hofmannswaldau, von Zesen, Angelus Silesius, Kuhlmann, Günther, für deren Lyrik auf zwei Anthologien verwiesen wird. Angemerkt sei noch, dass Martin Opitz zudem vertreten ist mit der Übersetzung von Philip Sidneys „Arcadia der Gräfin Pembrock“. Worauf kam es Szondi an, wenn er nicht die Lektüre von Auszügen aus dem Alten und dem Neuen Testament als Lektüre verlangte, sondern aus der von Martin Luther übersetzten Bibel? Wenn Opitz mit der Übersetzung eines Werks der englischen Literatur auftaucht, die allerdings austauschbar war gegen von Zesens Adriatische Rosemund oder von Zigler und Klipphausens Die asiatische Banise oder von Lohensteins Großmüthiger Feldherr Arminius… ? Was musste man unbedingt lesen? Was konnte durch die Lektüre eines Werkes derselben Epoche innerhalb einer Nationalliteratur ersetzt werden?

Zur unbedingten Pflichtlektüre gehörten aus der französischen Literatur beispielsweise Auszüge aus Marguerite de Navarres Heptaméron und aus den Briefen der Madame de Sévigné sowie (vollständig) La princesse de Clèves von Madame de Lafayette. Während Corinne, das einzig genannte Werk der Madame de Staël, durch Chateaubriands Atala oder René ersetzt werden konnte. Diese kurze Aufzählung nennt vier der insgesamt (nur) fünf Autorinnen, die für die französischen Literatur auf der Liste erscheinen. Ebenso erscheinen für die englische Literatur (nur) insgesamt fünf Autorinnen: Mary Woolstonecraft Shelley, Jane Austin, Emily Brontë, George Eliot und Virginia Woolf. Letztere gehört mit Nathalie Sarraute und Anna Seghers zu den nur drei für das 20. Jahrhundert aufgelisteten Autorinnen. Anna Seghers ist zugleich die einzige Frau in der Liste der deutschen Literatur vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Anna Seghers, aus dem Exil zunächst nach Westberlin zurückgekehrt, lebte seit 1950 im Ostteil der Stadt, d.h. in der DDR, genannt werden von ihren Werken eine Erzählung aus den 1920er Jahren (Aufstand der Fischer von St. Barbara) und zwei Romane aus der Zeit des Exils (Das siebte Kreuz; Transit). Seghers steht damit an vorletzter Stelle der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts auf Seite 4 (vgl. Anh. 2). Die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts bildet jedoch – anders als die englische und die französische Literatur dieses Jahrhunderts – keine eigene Kategorie, sondern wird unter „19. und 20. Jahrhundert“ subsummiert.

Die geringe Anzahl an Werken von Frauen ist nicht das einzige Manko, das Leser des 21. Jahrhunderts an der Liste irritieren wird. Auffällig ist ebenso, dass – abgesehen von der ganz kurzen Auflistung für die „Amerikanische Literatur“, die einen Appendix der englischen Literatur bildet – ausschließlich Werke europäischer Literaturen auf Szondis Liste erscheinen. Diese ist in „Nationalliteraturen“ unterteilt (vgl. Seite 1 der Liste, Anh. 1), also nicht etwa in Literaturen verschiedener Sprachen, wie etwa deutschsprachige oder französischsprachige Literatur. Der Begriff „Nationalliteratur“ befremdet; den Grund für seine Verwendung herauszufinden, wäre eine Recherche wert. Autor*innen englischer und französischer Sprache, die etwa in ehemaligen Kolonien Frankreichs oder Großbritanniens leben und schreiben, schließt die Bindung von Literaturen an Nationen aus. Die deutsche Literatur ist mit dem Begriff „Nationalliteratur“ ohnehin nicht zu fassen. Nicht nur was das Fehlen weiblicher und außereuropäischer Stimmen angeht, erscheint die Literatur des 20. Jahrhunderts auf der Liste aus heutiger Sicht insgesamt sehr verkürzt. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch Szondis (west-)europäische Perspektive der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die englische und die französische Literatur enden auf seiner Liste jeweils mit Werken des irischen Autors („Nationalliteratur“ greift hier schwerlich) Samuel Beckett: Krapp’s Last Tape oder Happy Days und Murphy oder Watts, bzw. En attendant Godot oder Fin de partie und Molloy oder Malone meurt oder L’innommable oder Textes pour rien.

Für die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts steht unter anderen Kafka mit seinen drei Romanen, von denen einer neben einer „Auswahl aus den Erzählungen, Tagebüchern und Briefen“ einer zu lesen war. Alfred Döblin ist mit seinem berühmten Roman von 1928 Berlin Alexanderplatz vertreten, der allerdings nicht Pflichtlektüre war, sondern vielmehr eine Alternative zu dem in den frühen 1930er Jahren im Exil geschriebenen und publizierten, heute kaum je erwähnten, Roman Babylonische Wandrung. Zum Pflichtpensum gehörten hingegen Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke, Bertolt Brechts „Späte Gedichte“, eine Auswahl aus „Bertolt Brechts Hauspostille“ und Auszüge aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Auffällig ist das fast vollständige Fehlen von Autoren der Bundesrepublik: Genannt ist lediglich der aus dem Exil nach Hamburg zurückgekehrte Hans Henny Jahnn mit Erzählungen der 50er Jahre. Die einzigen zeitgenössischen Werke deutscher Sprache der Liste Szondis sind die in Auswahl zu lesenden „Gedichte“ des in Czernowitz geborenen und in Paris verstorbenen Freundes Paul Celan.

Hier enden meine skizzenhaften Kommentare. Diese sind keinesfalls als Analyse von Szondis Liste gedacht, sondern wollen lediglich Anregungen geben und mögliche Fragestellungen eröffnen. Eine kritische Lektüre der gesamten „Leseliste des Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (FU-Berlin)“ verspricht neue bzw. erneute Einsichten in die Grundlagen der von Szondi in Westberlin konstituierten Disziplin.