Partie I - ÉtudesStudien

Mehrdeutigkeit – Zur Stellung der Philologie bei Szondi und Barthes[Notice]

  • Regine Strätling

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  • Regine Strätling
    Universität Bonn
    Université de Montréal

Peter Szondis Rolle als Vermittler neuester französischer Theorie in Deutschland ist bekannt. Als „erste Anlaufstelle der großen französischen Denker, deren Strahlkraft sich erst in den 80er und 90er Jahren in Deutschland entfalten würde“ (Lethen 2016: 58), hat Szondi vor allem die deutsche Rezeption von Jacques Derrida befördert. Auf Szondis durch seinen Assistenten Samuel Weber vermittelte Einladung hin hielt Derrida 1968 am drei Jahre zuvor an der Freien Universität Berlin eingerichteten Seminar für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft zum ersten Mal einen Vortrag in Deutschland. Die Einladung erfolgte im Rahmen von Szondis Oberseminar zum Thema „Probleme einer strukturalistischen Literaturwissenschaft“ im Sommersemester 1968. Der Seminarplan sah für zwei Seminartermine die Lektüre von Auszügen aus Derridas im Vorjahr erschienenen Büchern De la grammatologie und L’écriture et la différence vor. Mit Derridas Besuch in Berlin setzte ein regelmäßiger Austausch mit Szondi ein, der bis zu dessen Tod 1971 andauerte und – zumindest in seiner ereignisgeschichtlichen Dimension – in der Forschung inzwischen ausführlicher dokumentiert ist (cf. Reinisch 2016). Dass aus der Reihe der im Seminarplan aufgeführten zeitgenössischen französischen Autoren gerade Derrida eingeladen wurde, ist vermutlich vor allem auf die Vermittlerrolle des US-Amerikaners Weber zurückzuführen, der von seinem Doktorvater Paul de Man schon vor der Buchveröffentlichung der Grammatologie auf Derrida aufmerksam gemacht worden war (cf. Weber 2016: 303). Aus dem Seminarplan ergibt sich diese herausgehobene Rolle Derridas eigentlich nicht, haben hier doch – angesichts des Seminarthemas naheliegend – die großen Namen des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus, vor allem Jakobson, Genette und Barthes, ein viel größeres Gewicht (ebd. 305), wobei freilich nicht übersehen werden darf, dass der Titel des Seminars den Fokus auf die Probleme – und nicht das Potential – einer strukturalistischen Literaturwissenschaft richtet. Nichtsdestoweniger kann die Auseinandersetzung Szondis mit diesen Autoren im Kontext seines Bestrebens situiert werden, der Literaturwissenschaft eine theoretisch-methodische Fundierung zu geben, die ihrem Erkenntnisobjekt angemessen ist. In diesem Zusammenhang stand auch Szondis Interesse an der hermeneutischen Tradition, der er im Wintersemester 1967/68 eine Vorlesung widmete. Für sein Projekt einer methodologischen Erneuerung des Faches boten vermutlich die genannten Vertreter des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus und ihre von der Linguistik inspirierten Ansätze sehr viel konkretere Anschlussmöglichkeiten als Derridas ‚poststrukturalistische‘ Präsenzkritik, bei aller Hochachtung, die Szondi dessen minutiöser Textarbeit entgegenbrachte. Das zeigt etwa Szondis Fragment gebliebene Studie „Eden“, die in der Analyse von Paul Celans Gedicht „Du liegst“ abschließend auf de Saussures linguistische Terminologie und Jakobsons Unterscheidung von Metonymie und Metapher rekurriert (s. Szondi 1978: 398). Im Folgenden möchte ich die Frage nach möglichen Anschlüssen Szondis an französische Strukturalisten mit Blick auf Roland Barthes konkretisieren und damit dem vielfach tendenziell ‚ereignisgeschichtlichen‘ Zugang, der in der Forschung Szondis Austausch mit Derrida bestimmt, einen möglichen Dialog der Texte Szondis und Barthes’ zur Seite stellen. Meine Überlegungen könnten sich auf ausführlichere Äußerungen von Szondi selbst dazu stützen, wenn die 1967 von Pierre Bourdieu ins Auge gefasste Publikation einer französischsprachigen Fassung von Szondis „Über philologische Erkenntnis“ nicht erst lange nach Szondis Tod, 1975, realisiert worden wäre. Wie Solange Lucas anhand eines an Szondi gerichteten Briefes von Bourdieu zeigt, regte dieser für die französische Fassung des Artikels eine Ergänzung an, in der sich Szondi nicht nur im Hinblick auf die französische akademische Literaturwissenschaft positionieren sollte, sondern auch auf die Literaturtheoretiker um die Zeitschrift Tel Quel, denen Barthes zuzurechnen ist. In Szondis Strukturalismus-Seminar standen für vier der insgesamt zehn, stets in Zweierblöcken organisierten Sitzungen Texte von Barthes auf dem Programm. Die beiden Eröffnungssitzungen sahen neben Texten von de Saussure, Trubetzkoy, Jakobson und Derrida – man fragt sich, wie die Studierenden dieses Programm bewältigt haben – die Lektüre von Barthes’ Aufsatz Éléments de sémiologie (1964) vor, außerdem die des Artikels des Ostberliner Linguisten Manfred Bierwisch „Strukturalismus: …

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