Partie I - ÉtudesStudien

Philologie und/oder Hermeneutik. Textverstehen bei Peter Szondi[Notice]

  • Béla Bacsó

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  • Béla Bacsó
    Université Loránd-Eötvös, Budapest

Schön wäre es, sagen zu können, Peter Szondi sei in seinem Geburtsland zu Hause. Mit seiner Benjamin-Abhandlung könnte man sagen, dieses Land, d.h. Ungarn, war nach der Katastrophe für immer unfähig, die Besten wenigstens geistig zu retten. Nein, es war keine Rettung für ihn eingedenk der wiedererzählten Kindheit. Ivan Nagel, sein Jugendfreund, hat mir gegenüber einmal erwähnt, Szondi habe nie Heimweh nach Ungarn gehabt. Seine Selbstbeschreibung als selfdisplaced person brachte gegen Ende seines Lebens seine Heimatlosigkeit recht eindeutig zum Ausdruck. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Theorie des modernen Dramas (1979) auf Ungarisch erschienen und nach der Wende die Einführung in die literarische Hermeneutik (1996) und eine Auswahl seiner wichtigen Abhandlungen (Schlegels Gattungstheorie, Celans Shakespeare-Übersetzungen, Schleiermachers Hermeneutik). Was ich vorerst als allgemeine Behauptung zu seiner enormen Leistung bemerken möchte, ist, dass Szondi einen Spürsinn sowohl für theoretische Fragen als auch für bestimmte schwer auslegbare Kunstwerke (Hölderlin, Eliot, Celan) hatte. Die Themen seiner Vorlesungen und Schriften sind nie zufällig gewählt. Wir alle wissen, dass Szondi im Nachkriegsdeutschland die eigene literaturwissenschaftliche oder hermeneutische Position sehr stark gegen die verdächtig gewordenen National-Philologien abgrenzen musste. Viele sprechen über Distanziertheit oder Reserviertheit seines Benehmens. Man darf jedoch nicht vergessen, dass das Eigene nicht den anderen gehört. Eine so schlichte Auffassung, wie sie Auerbach hier vertrat, war für Szondi nicht annehmbar: „Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein. […] Wir müssen, unter veränderten Umständen, zurückkehren zu dem, was die vornationale mittelalterliche Bildung schon besaß: zu der Erkenntnis, dass der Geist nicht national ist“ [Hervorhebung B. B.] (2017 [1952]: 121). Für Szondi war eine derart naive Rettung durch den Geist nicht vertretbar. Trotzdem wollte er sicher eine kritische Wiederaneignung der klassischen Überlieferung bewirken. Schon in den Sechzigerjahren besteht eine fast unüberbrückbare Spaltung zwischen der traditionellen und philosophischen Hermeneutik, wobei die frühere Hermeneutik völlig obsolet zu sein scheint, und damit die Geschichte der anfänglichen Auslegungskunst fast in Vergessenheit geraten. Hier ist die erste hervorzuhebende Wende in Szondis Untersuchungen zur Auslegungskunst als eine einzigartige Neubelebung und Neubewertung der aufklärerischen und romantischen Hermeneutik zu identifizieren. Nicht zu vergessen ist, dass er in seiner Vorlesung zur Einführung in die literarische Hermeneutik eindeutig eine anders konzipierte Hermeneutik beschwört: Diese neugedachte Philologie oder literarische Hermeneutik wäre ohneÄsthetik nicht anwendungsfähig. Zu dieser Erneuerung gehört nicht nur die Philologie, sondern auch deren gründliche Umkehrung, um einerseits die klassischen Werke und andererseits das sprachlich fortgeführte Miteinandersein der Menschen mit einzubeziehen. So konnte die romantische Auslegungskunst für die Erneuerung des Textverstehens eintreten. Die damit vielleicht zusammenhängende lange praktizierte Fehlinterpretation besteht in der bis heute üblichen Abgrenzung der romantischen von der existentiellen Hermeneutik mit ihrem Anfang bei Heidegger, obwohl es einen gemeinsamen Grund, nämlich beim späten Dilthey gibt. Das nach Paul Yorck von Wartenburg kritisierte Verständnis des Geschichtlichen wurde später von Dilthey von Grund auf uminterpretiert, und eben dies ist der ausgearbeitete Ausgangspunkt von Heidegger vom Anfang der zwanziger Jahre bis zu Sein und Zeit (1927). Nach Yorck von Wartenburgs Behauptung, oder besser seiner Mahnung an Dilthey, wäre es ein grober Fehler, wenn er „die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem“ nicht erkennen und aufweisen könnte. Diese Differenz zu betonen, brachte beide Denker dazu, die Kritik der schlicht existierenden und damaligen gestalthaften bzw. ästhetischen Werkanalyse zu überprüfen. Dilthey hat es in seiner posthum publizierten Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt eindeutig als eine ständige Unruhe im Geschichtlichen dargestellt. Mit Blick auf die Kunst heißt es: Damit möchte ich natürlich nicht die Unterscheidungen eliminieren oder vernebeln, sondern ganz einfach klar machen, dass die wesentlichen Differenzen verständlich gemacht werden können. Natürlich konnte Szondi in seiner theoretischen/praktischen Auslegungskunst …

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