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„Wenn Vergleiche zu etwas taugen sollten, zum Festhalten von Differenzen.“

Gert Mattenklott, „Peter Szondi als Komparatist“

Schön wäre es, sagen zu können, Peter Szondi sei in seinem Geburtsland zu Hause. Mit seiner Benjamin-Abhandlung[1] könnte man sagen, dieses Land, d.h. Ungarn, war nach der Katastrophe für immer unfähig, die Besten wenigstens geistig zu retten. Nein, es war keine Rettung für ihn eingedenk der wiedererzählten Kindheit. Ivan Nagel, sein Jugendfreund, hat mir gegenüber einmal erwähnt, Szondi habe nie Heimweh nach Ungarn gehabt. Seine Selbstbeschreibung als self displaced person[2] brachte gegen Ende seines Lebens seine Heimatlosigkeit recht eindeutig zum Ausdruck.

Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Theorie des modernen Dramas (1979) auf Ungarisch erschienen und nach der Wende die Einführung in die literarische Hermeneutik (1996) und eine Auswahl seiner wichtigen Abhandlungen (Schlegels Gattungstheorie, Celans Shakespeare-Übersetzungen, Schleiermachers Hermeneutik). Was ich vorerst als allgemeine Behauptung zu seiner enormen Leistung bemerken möchte, ist, dass Szondi einen Spürsinn sowohl für theoretische Fragen als auch für bestimmte schwer auslegbare Kunstwerke (Hölderlin, Eliot, Celan) hatte. Die Themen seiner Vorlesungen und Schriften sind nie zufällig gewählt. Wir alle wissen, dass Szondi im Nachkriegsdeutschland die eigene literaturwissenschaftliche oder hermeneutische Position sehr stark gegen die verdächtig gewordenen National-Philologien abgrenzen musste. Viele sprechen über Distanziertheit oder Reserviertheit[3] seines Benehmens. Man darf jedoch nicht vergessen, dass das Eigene nicht den anderen gehört. Eine so schlichte Auffassung, wie sie Auerbach hier vertrat, war für Szondi nicht annehmbar: „Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein. […] Wir müssen, unter veränderten Umständen, zurückkehren zu dem, was die vornationale mittelalterliche Bildung schon besaß: zu der Erkenntnis, dass der Geist nicht national ist“ [Hervorhebung B. B.] (2017 [1952]: 121). Für Szondi war eine derart naive Rettung durch den Geist nicht vertretbar. Trotzdem wollte er sicher eine kritische Wiederaneignung der klassischen Überlieferung bewirken.

Schon in den Sechzigerjahren besteht eine fast unüberbrückbare Spaltung zwischen der traditionellen und philosophischen Hermeneutik[4], wobei die frühere Hermeneutik völlig obsolet zu sein scheint, und damit die Geschichte der anfänglichen Auslegungskunst fast in Vergessenheit geraten. Hier ist die erste hervorzuhebende Wende in Szondis Untersuchungen zur Auslegungskunst als eine einzigartige Neubelebung und Neubewertung der aufklärerischen und romantischen Hermeneutik zu identifizieren. Nicht zu vergessen ist, dass er in seiner Vorlesung zur Einführung in die literarische Hermeneutik eindeutig eine anders konzipierte Hermeneutik beschwört: Diese neugedachte Philologie oder literarische Hermeneutik wäre ohne Ästhetik nicht anwendungsfähig[5]. Zu dieser Erneuerung gehört nicht nur die Philologie, sondern auch deren gründliche Umkehrung, um einerseits die klassischen Werke und andererseits das sprachlich fortgeführte Miteinandersein der Menschen mit einzubeziehen. So konnte die romantische Auslegungskunst für die Erneuerung des Textverstehens eintreten. Die damit vielleicht zusammenhängende lange praktizierte Fehlinterpretation besteht in der bis heute üblichen Abgrenzung der romantischen von der existentiellen Hermeneutik mit ihrem Anfang bei Heidegger, obwohl es einen gemeinsamen Grund, nämlich beim späten Dilthey gibt. Das nach Paul Yorck von Wartenburg kritisierte Verständnis des Geschichtlichen wurde später von Dilthey von Grund auf uminterpretiert, und eben dies ist der ausgearbeitete Ausgangspunkt von Heidegger vom Anfang der zwanziger Jahre bis zu Sein und Zeit (1927). Nach Yorck von Wartenburgs Behauptung, oder besser seiner Mahnung an Dilthey, wäre es ein grober Fehler, wenn er „die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem“[6] nicht erkennen und aufweisen könnte. Diese Differenz zu betonen, brachte beide Denker dazu, die Kritik der schlicht existierenden und damaligen gestalthaften bzw. ästhetischen Werkanalyse zu überprüfen. Dilthey hat es in seiner posthum publizierten Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt eindeutig als eine ständige Unruhe im Geschichtlichen dargestellt. Mit Blick auf die Kunst heißt es:

So kann der von innen determinierte Mensch in der Imagination viele andere Existenzen erleben. Vor dem durch die Umstände Beschränkten tun sich fremde Schönheiten der Welt auf und Gegenden des Lebens, die er nie erreichen kann. Ganz allgemein ausgesprochen: der durch die Realität des Lebens gebundene und bestimmte Mensch wird nicht nur durch die Kunst – was öfter entwickelt ist –, sondern auch durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt

Dilthey 1981: 267

Damit möchte ich natürlich nicht die Unterscheidungen eliminieren oder vernebeln, sondern ganz einfach klar machen, dass die wesentlichen Differenzen verständlich gemacht werden können.

Natürlich konnte Szondi in seiner theoretischen/praktischen Auslegungskunst eben dank Dilthey viele Ideen zur Hermeneutik übernehmen. So war es für ihn selbstverständlich, eine neue Lesart von Schlegel oder Schleiermacher mit schärferen Akzenten vorzulegen. Aber schon am Ende seines Traktats über philologische Erkenntnis hat er die Eigenständigkeit der Kunstauslegung nachdrücklich hervorgehoben. Es heißt dort: „Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, dass sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in die ‚Logik ihres Produziertseins‘ erhoffen[7]“ (Szondi 1977: 33−34). In diesem Hinweis auf Adorno steckt eine ganz wesentliche ästhetische Wende bei Szondi, er war ja auch mit der Ästhetik von Paul Valéry sehr vertraut, zumal er die Auswahl Windstriche mitübersetzt und mitherausgegeben hatte. Szondi hat dies in einem Brief an Adorno unmissverständlich ausgeführt: „Ich versuche, die gängigen Methoden philologischer Beweisführung sowie den Begriff des philologischen Wissens von ihren inneren Widersprüchen her zu sprengen, und komme zu einem Begriff der Erkenntnis, der Ihren Ausführungen […] viel verdankt“ (1993 [16.01.1962]: 122). Adorno hat in seinem Essay mit und neben den Fragmenten von Valéry genau diese Logik des Produziertseins herausgearbeitet, um die Autonomie und antithetische Selbstständigkeit des Kunstwerks aufzuzeigen. Die im Vollzug und in der Reflexion sich eröffnende Auseinandersetzung mit dem Werk ist fähig, eine Ästhetik ohne geistige Rettung hervorzubringen. Hier wird der unabweisbare lebendige Unterschied zwischen dem bloß seienden Kunstwerk und seiner geschichtlich ständig abweichenden Erscheinungsweise deutlich: Das Kunstwerk negiert immerwährend sein schon Verstanden-sein und damit sprengt es alle seine für faktisch gültig genommenen Auslegungen. Man liest bei Adorno:

Kunst, die dem zivilisatorisch-rationalen Zug sich einfügt und ihm die historische Entfaltung ihrer Produktivkräfte verdankt, meint doch zugleich auch den Einspruch gegen ihn, das Eingedenken dessen, was in ihm nicht aufgeht und was er eliminiert; eben das Nichtidentische, worauf das Wort Abweichung [Hervorhebung B. B.] anspielt

Adorno 1981: 170

Das Kunstwerk bricht oder unterminiert gerade die faktenartige Erklärung der philologischen Erkenntnis und damit öffnet es sich selbst gegenüber oder vielmehr: es vervielfältigt die Abweichungen von sich selbst und erzeugt die geschichtliche Mehrdeutigkeit beim Verstehen. Das Werk bringt Fragen mit sich, die wir nie endgültig zu beantworten fähig sind. Mit Valérys klar formulierter Idee kann man sagen: „Mais nos réponses justes sont rarissimes. La plupart sont faibles ou nulles. Nous le sentons si bien que nous nous tournons à la fin contre nos questions[8] (1926: 152).

Weiters sehen wir hier eine sehr starke Anknüpfung an Adornos kritisch/praxisorientierte Kunsttheorie, seine Auslegung erreicht den Höhepunkt eben durch die Kritik der gängigen Methoden der Erkenntnis durch die ständigen Abweichungen von sich selbst. Aufgrund dieses nämlichen „Nichtidentischen oder Inkommensurablen“ ist dieser Zugang Auslegung oder Offenbarung der Mehrdeutigkeit des Kunstwerkes:

Das wissenschaftliche Postulat, dass nur die vom Dichter intendierte Mehrdeutigkeit vom Verständnis zu berücksichtigen ist, scheint nämlich weder der Eigenart des dichterischen Prozesses noch der Eigenart des sprachlichen Kunstwerks ganz gerecht zu werden. Denn es setzt voraus, dass ein poetischer Text die Wiedergabe von Gedanken oder Vorstellungen ist

Szondi, op. cit., 1977: 30−31

Die sprachliche Geprägtheit des Werks zeigt uns seine Intentionen nur durch sich selbst, also das Fragen nach seiner letztgültigen Absicht scheint völlig fehlzugehen, damit würden wir genau die Geschichtlichkeit des Werks einfach ignorieren. Szondi sprach nach Valéry in seinem Traktat zu Recht über die tödliche Einstimmigkeit zwischen Werk und Wirklichkeit. Valéry macht eine solche unwissenschaftliche Annäherung an das Kunstwerk mit einem kurz und bündig formulierten Satz lächerlich oder verhöhnt diese ironisch: „Mon intention n’est que mon intention, et l’oeuvre est l’oeuvre[9] (2001 [1971]: 13).

Wir haben oben schon Szondis eindeutiges Bestreben nach einer kritischen Aneignung der Überlieferung erwähnt: Er verfolgte keine Unterscheidung, wenn er von literarischen Werken oder theoretischen Arbeiten schrieb. Seine eingehende Aufarbeitung der Schleiermacherschen Hermeneutik war in dem Sinne eminent, in dem er sie von der vorurteilhaften Benommenheit befreite und sie als geeignet für eine zwischen Sprache und Rede inversiv ausgeführte Auslegung darstellte. Jede sprachliche Auslegung wird nur in einer allmählichen Selbstfindung des Menschen entfaltet, das heißt, ein endgültiges Verstehen des fraglichen Objekts verneint die veränderungsfähige, genauer gesagt geschichtliche Einstellung des Subjekts. Andererseits sind wir beim Verstehen in gewissem Sinne nie mit uns selbst identisch. Schleiermacher hat dies in seiner Akademierede über Hermeneutik (1829) prägnant formuliert: „weil jede [auch lebendigste Bewegung der Seele] in ihrem einzelnen Sein das Nichtsein der anderen ist, [wird] das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen […]“ (Schleiermacher 1977: 328; vgl. Szondi, op. cit., 1975a: 172). An das früher Erwähnte anknüpfend zwischen dem wechselnden und antithetisch reflexiven Vollzug des Verstehens wird es nötig, die eigene Position als eine vom Werk aufgesprengte aufzurichten. Für Schleiermacher war es eben darum unumgänglich, dass der Mensch, der Einzelne nur ein Ort für die Sprache ist, und dass beim Reden alles, nachdem es grammatisch verstanden wurde, in abweichungsreiche Bewegung kommt: „Die grammatische ist die höhere, wenn man die Sprache insofern betrachtet, als sie das Denken aller einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort für die Sprache [Hervorhebung B. B.] und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart[10]“ (Schleiermacher, op. cit., 1977: 79). In diesem Sinne konnte Szondi zu Recht sagen, dass nach der hermeneutischen Praxis, die sich lediglich auf einzelne Stellen bezieht, die sprachlich erweiterte Hermeneutik ihren berechtigten Platz gewinnen werde: „Das Grundprinzip der Schleiermacherschen Interpretationslehre ist die Betrachtung einer Rede unter doppeltem Aspekt: die Rede ist ein Einzelnes, das sowohl vom Ganzen ihres Autors als auch vom Ganzen der Sprache her erst verstanden werden kann, zurückversetzt in das doppelte Spannungsfeld, dessen Berührungspunkt es ist“ (Szondi, op. cit., 1975a: 173). Eine kritische Einstellung zum Verstandenen entfaltet alles Mögliche aus diesem Spannungsfeld um den Text und so existiert das Literarische, doch diese notwendige, nur für eine gewisse Zeit ausharrende Selbstfindung beim Verstehen wird bei der nächsten Deutung bisweilen unhaltbar. Im Entwurf zu seiner Zürcher Vorlesung hat er es noch eindeutiger beschrieben: „Aus der Konzeption der sprachlichen Bedingtheit von Literatur folgt, dass die literarische Hermeneutik den Gegenstand des Verstehens nicht jenseits der Sprache ansetzen kann, wobei der Akt des Verstehens einer bloßen Dechiffrierung gleichkäme, sondern in der Sprache selbst. Die Konzeption der historischen Erkenntnis als einer durch den historischen Standort des Erkennenden mitbedingten stellt die literarische Hermeneutik vor die Aufgabe, Kriterien zu gewinnen, welche sie davor bewahrt, aus der als Selbsttäuschung erkannten Objektivität historischer Einfühlung in die Willkür aktualisierender Subjektivität zu geraten“ (Szondi 1975b: 405−406). Szondis so genannte Kristallisationspunkte bezeichnen eine beidseitige Beschränkung bei der Auslegung von Texten: Er wollte die Vorherrschaft des sprachlich Gefassten einerseits gegen alle Willkür, anderseits auch zugespitzt gegen das sehr praktische Übergewicht der aktualisierenden Einverleibung beim Textverstehen abgrenzen. Damit schreibt er durch die sprachlich-geschichtlich aufgefasste Ästhetik dem Geschriebenen den Vorrang zu, setzt sich aber damit gegen die bloß philologische Nachbildung des schon Gegebenen ab. So erweitert Szondi die literarische Hermeneutik in seinen andauernden Abweichungen in einer Richtung der ständigen Distanzierung, obwohl sie eben vom Text initiiert wird. Diese grundsätzliche Wende in der Ästhetik ist durch die a-mimetische Auffassung des Werkes bestimmt, was in seinen Ausführungen zu Celans neuer poetischer Sprachidee klar wird: „Die Dichtung ist nicht Mimesis, keine Repräsentation mehr: sie wird Realität. Poetische Realität freilich, Text, der keiner Wirklichkeit mehr folgt, sondern sich selbst als Realität entwirft und begründet“[11] (Szondi 1978: 348−349).

Vielleicht könnte man sagen, die schweren Texte treten in die unergründliche Welt der Schwerelosigkeit hinaus, darum sind sie für uns immer belastend und bedeutend zugleich.