Der unzeitige Tod des großen Literaturwissenschaftlers Peter Szondi (1929−1971) jährte sich im Herbst 2021 zum 50. Mal. Die vorliegende Publikation versammelt Beiträge einer im März 2022 am Centre canadien d’études allemandes et européennes (CCEAE) der Université de Montréal zu Ehren von Peter Szondi abgehaltenen internationalen Tagung. Die in französischer, englischer und deutscher Sprache verfassten Texte beleuchten Szondis literarische Hermeneutik aus unterschiedlichen disziplinären und nationalen Perspektiven. Nachgezeichnet wird damit auch die geistige Konstellation, die Szondi in seiner Person verkörperte – eine spezifische Konstellation von Personen, Orten und Themen, die Jean Bollack, Paul Celan, Gershom Scholem, Theodor Adorno et al. einschließt und die Städte Budapest, Zürich, Paris, Berlin und Jerusalem verbindet. Es gilt eine führende Forscherpersönlichkeit wiederzuentdecken und die Geschichte der von ihm maßgeblich mitgeprägten pluralen Disziplin zu befragen. Zu erhellen ist auch die Geschichte des 1965 in West-Berlin von diesem Intellektuellen jüdisch-ungarischer Herkunft gegründeten Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, das heute den Namen Peter Szondi trägt. Wie die Tagung umfasst auch die Publikation theoretische Erörterungen sowie eher persönliche Erfahrungsberichte in den Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch. Am Anfang des theoretischen Teils („Studien“) steht „‘A Self-Displaced Person’: Peter Szondi, Comparative Literature, Being-Jewish“ von Galili SHAHAR (Tel Aviv), der in Schriften Szondis, vor allem in Briefen, dessen überaus problematischem Verhältnis zum Judentum nachspürt, den damit verbundenen Wünschen und Ängsten, die nicht zu trennen sind von Szondis intellektuellem und institutionellem Engagement als Komparatist in den 1960er Jahren an der Freien Universität Berlin. Béla BACSÓ (Budapest) ergründet in „Philologie und/oder Hermeneutik. Textverstehen bei Peter Szondi“ die von Peter Szondi initiierte feste Verankerung in der Hermeneutik, speziell der Schleiermachers, und führt aus, wie er somit eine Erkenntnistheorie der Literaturwissenschaft entfalten konnte, die ihm erlaubte, in einer sorgfältigen Philologie und ästhetischen Fragestellung zugleich der historischen Vieldeutigkeit literarischer Werke gerecht zu werden. In „Sur la signification d’une publication française différée : Remarques sur Pierre Bourdieu et le traité ‘Sur la connaissance philologique’“ beleuchtet André LAKS (Paris/Mexiko-Stadt) die in erster Linie durch die École de Lille um Jean Bollack vermittelte Rezeption von Szondis Hermeneutik in Frankreich. Präzise rekonstruiert Laks die Vorbehalte und Missverständnisse, denen Szondis Essay „Über philologische Erkenntnis“ begegnete und die Pierre Bourdieu schließlich dazu veranlassten, diesen Text nicht in die Ausgabe von Poésie et poétique de l’idéalisme allemand (1975) seiner Reihe „Le sens commun“ aufzunehmen. Regine STRÄTLING (Berlin/Montréal) geht in „Mehrdeutigkeit – Zur Stellung der Philologie bei Szondi und Barthes“ der Frage nach, wie Szondi an französische Strukturalisten anschließbar wäre und konkretisiert diese Problematik mit Blick auf Roland Barthes, um der Forschung einen möglichen Dialog der Texte Szondis und Barthes’ zu eröffnen. Den Auftakt der Erfahrungsberichte („Zeugnisse“) bildet „Peter Szondi : point(s) de retour à Zurich en 1971“ von Monique MOSER-VERREY (Montréal). Ausgehend von ihren Erinnerungen an die einzige Begegnung mit Peter Szondi bei dessen erster und letzter Sprechstunde an der Universität Zürich führt uns die einstige Züricherin in ihrer topografischen Hommage vom Institut des Arztes Leopold Szondi (dem Vater) über die Universität Zürich, an die Szondi berufen worden war, schließlich zum Schauspielhaus am Pfauen, das für seine Kritikertätigkeit und intellektuelle Entwicklung von herausragender Bedeutung war. Philippe DESPOIX (Montréal) konstatiert in „La table de travail de Peter Szondi. Réflexions sur la transmission d’un héritage critique“ ein paradoxes „Nachleben“ Szondis in der je unterschiedlichen Weise, in der Hella Tiedemann respektive Gert Mattenklott die Kontinuität des Vermächtnisses von Szondi am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft verkörperten und den von ihm eingeschlagenen Weg fortsetzten. Ausgehend von dem konträren Umgang, den sie mit dem Arbeitstisch ihres einstigen Lehrers pflegten, wird deutlich, wie unterschiedlich ihr Beitrag zu seinem Andenken insgesamt war. Maria ZINFERT (Montréal/Berlin) erinnert sich in „Szondis Abwesenheit …
Einleitung. Eine andere Hermeneutik[Notice]
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Philippe Despoix
Université de MontréalMaria Zinfert
Université de Montréal