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Kultur und Polizei
Es ist das Verdienst Rafael Behrs, mit der Studie Cop Culture aus dem Jahr 2000[1] den Begriff und das Programm einer „Polizeikulturforschung“ in Deutschland eingeführt zu haben. Mit seinem neuen Buch Polizeikultur. Routine – Rituale – Reflexionen verfolgt der Autor zwei Ziele: Zum einen will er seine Überlegungen zur Polizeikultur weiterführen, zum anderen aber auch aktuelle Trends beschreiben, die die Entwicklung der Polizei in Deutschland kennzeichnen. Diese zwei Aspekte führt er, wie im Untertitel des Buches angedeutet wird, zu einer „Theorie der Praxis der Polizei“ zusammen. Mit seinen über die Jahre gesammelten Erfahrungen, die ihn zu einem Kenner der Polizei machen, bietet uns Behr nun mit Polizeikultur jedoch ein neues Genre. Im Gegensatz zu Cop Culture haben wir es hier nicht mehr mit einer ethnographischen Monographie zu tun, vielmehr schwankt das Buch zwischen Lehrbuch und Manifest.
Polizeikultur ist in vier lose zusammenhängende Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel behandelt abermals die Polizei- und Polizistenkultur und setzt damit den allgemeinen Rahmen des Buches. Hinter dem Titel „Routine“ verbirgt sich im zweiten Kapitel eine Darstellung der Entwicklungen innerhalb der Polizei wie Bildungsexpansion, Internationalisierung sowie Bestrebungen in Richtung einer Bürgerschutzpolizei. Das dritte Kapitel („Rituale“) ist der „Stratifikation“ der Organisation gewidmet: Fragen nach der Altersstruktur oder der Einstellung von Frauen und Migranten, also Aspekte, die die Polizeikultur unter Veränderungsdruck setzen, werden ausführlich erörtert. Während die Kapitel, die sich mit den jeweiligen Handlungsfeldern auseinandersetzen, einen starken Lehrbuchcharakter aufweisen (ähnlich etwa zu Brodeurs Visages de la police[2]), will der letzte Abschnitt des Buches der Polizei und Polizeiforschung konkrete Vorschläge anbieten. Somit kann das letzte Kapitel auch als eine Art Manifest für den „reflektierten Praktiker“ gelesen werden, der gemeinsam mit den Polizeiforschern Adressat des Buches ist.
Trotz der großen Bandbreite an Themen, die das Buch anspricht, kreist letztlich doch alles unablässig um die Frage: Was eigentlich ist Polizei? Und wie kann man sie begreifen? Behr stellt dazu methodische, inhaltliche, aber auch polizeistrategische Überlegungen an. Weil die von ihm vorgeschlagenen Antworten zweifellos einen Beitrag zur Polizeiforschung leisten, gleichzeitig aber auch methodologische Probleme bereiten, möchte ich sie unter den Begriffen Kultur, Vielfalt und Theorie der Praxis aufgreifen.
Kultur
Behr unterscheidet zwischen zwei Kulturebenen: der Polizeikultur und der Polizistenkultur („cop culture“). Die erste Ebene ist mit der formalen Organisation verbunden, sie ist die Kultur der Bürokratie, die der Soziologe z. B. in Leitbildern aufspüren kann. Dagegen hat die „cop culture“ (manchmal auch Subkultur genannt) mit Alltag und sozialem Nahraum zu tun. Sie ist im informellen Bereich bemerkbar etwa beim Plaudern mit Polizisten in der Kantine. „Cop Culture ist“, so Behr, „das ‚Konzentrat’ des polizeilichen Alltagswissens“ (S. 39) oder anders gesagt: Sie entspricht den Rezepten (im Sinne Alfred Schütz’), die die männlich und oft widerständig geprägte Lebenswelt der Polizisten kennzeichnen. Weil Kultur immer neu konstruiert wird und Handlungsräume unterschiedlich prägt, wird Behr nicht müde zu betonen, dass es nicht „die“ Polizistenkultur gibt. Festzuhalten wäre also, dass Polizistenkultur ein relativ klares Erscheinungsbild bei unbestimmtem Inhalt bietet.
Polizeikultur und Polizistenkulturen prägen die Arbeit der Polizisten und deren Handlungsräume auf unterschiedliche Art und Weise, da sie in Konkurrenz zueinander stehen. Eines jedoch teilen sie, nämlich das Gewaltmonopol, das Behr – entsprechend der klassischen Definition von Polizei – als konstitutiv für die Organisation und ihr Personal ansieht und das die Polizei bei aller Heterogenität zusammenschweißen sollte. Die Frage, die daher im Zentrum von Behrs Überlegungen steht, lautet: Wie lassen sich Polizeikulturen und Polizistenkulturen miteinander vereinbaren? Dieses Problem versucht der Polizeiforscher eher praktisch als methodisch oder theoretisch zu lösen. Er setzt auf Gemeinsamkeiten zwischen den zwei Kulturen, vor allem aber auf die Strapazierfähigkeit und das Handlungspotenzial der „cop culture“. Als Lösungsansatz wird hier u. a. vorgeschlagen, einen „Institutionenpatriotismus“ zu entwickeln sowie Möglichkeiten zu schaffen, das eigene Handeln stärker zu reflektieren. Gedacht ist dabei beispielsweise an den Einsatz von Supervision oder die Entwicklung von Kultur- und Verhaltens-Kodexen.
Vielfalt
Mittlerweile ist ein weiterer Aspekt in den Mittelpunkt von Behrs Interesse gerückt: die Vielfalt innerhalb der Polizei. Dafür stehen beispielhaft neben der Präsenz von Frauen seit den späten 70er Jahren die jüngsten Versuche, Migranten einzustellen. Dies ist auch zentrales Thema des von Behr geleiteten Forschungsprojekts „Migranten in Organisationen von Recht und Sicherheit“ (MORS). Nach einer Beschreibung der Schwierigkeiten, mit denen die Einstellungsversuche von Polizisten mit Migrationshintergrund (S. 121-134) verbunden gewesen sind, unterbreitet Behr in Kapitel drei und vier ein Modell, das auf einer gemeinsamen „Kultur der Polizei“ und Vielfalt beruht. Mit dem Schlagwort des „Institutionenpatriotismus“ (S. 185ff.) will der Polizeiforscher um eine Haltung werben gemäß dem Leitmotiv des „Nach außen verhalten wir uns einheitlich, nach innen vielfältig“ (S. 134, Anm. 113). So sieht er denn unter dem Motto „Kulturelle Einheit – persönliche Vielfalt“ im Institutionenpatriotismus eine „Alternative zum Diversity-Management“ (S. 134). Damit plädiert Behr für eine einerseits heterogenere Polizeiorganisation, die zugleich Assimilation als Ziel nicht aufgibt. Denn Diversity-Management ist bei Behr ein verrufenes Modell, das Vielfalt lediglich als „Wettbewerbsfaktor“ versteht (S. 175).
Die Themen Kultur und Vielfalt sind bei Behr einander nicht fremd. Obwohl der Kulturbegriff, dessen sich der Autor im ersten Teil des Buches bedient, sachlich untermauert ist, gewinnt er hinsichtlich des Themas „Migranten in der Polizei“ eine andere Bedeutung, die wiederum selbst kulturell verankert ist. Für die – nicht aus Deutschland stammende – Rezensentin ist der Kulturbegriff, der hinter dem befürworteten Modell steht, im Zusammenhang mit einer Besonderheit im Umgang mit Vielfalt in Deutschland zu verstehen. Behrs Vorschlag erinnert an ein liberales Modell, das danach strebt, eine „deutsche Kultur des Heterogenen“ zu entwickeln – das im Übrigen oft die polizeilichen Befürworter einer Einstellung von Anwärtern mit Migrationshintergrund geltend machen und gerne dem Diversity-Management entgegensetzen. Während das vorgeschlagene Modell kulturell verankert ist, wird umgekehrt der kulturelle Kontext, in dem der ursprünglich aus den USA stammende und in Betrieben angewendete Diversity-Management-Ansatz entstanden ist, ausgeblendet. Das Veränderungspotenzial des Diversity-Managements wird damit außer Acht gelassen.
Theorie der Praxis
Am Ende seines Buches schreibt Behr: „Die Erforschung des Handlungswissens der Männer und Frauen in der Polizei, also das Sammeln und Systematisieren ihrer Alltagstheorien oder besser: ihrer Theorien über den Alltag, wäre der Weg zur Theorie der Praxis der Polizei“ (S. 194). Doch nicht die Entwicklung von Instrumenten, die uns ermöglichen könnten, die Alltagstheorien in den Blick zu nehmen (wie etwa der Habitusbegriff Bourdieus, den Behr erwähnt), sind Gegenstand des Buches. Behrs Theorie der Praxis der Polizei führt vielmehr zu Stellungnahmen und Vorschlägen zur Entwicklung einer polizeilichen Handlungslehre (S. 193).
Trotz des losen Zusammenhangs der einzelnen Kapitel und der oben erwähnten Zwitterform des Genres stellt das Buch einen Gewinn dar. Es bietet dem Leser sehr Aufschlussreiches über „typisch handelnde“ polizeiliche Figuren. Ferner liefert es eine Sammlung einer Reihe von Maximen, die das Handeln von Polizisten leiten. So weist Behr auf unzählige Redewendungen, Slogans oder rekurrierende Metaphern hin, die die Sprache der Polizisten kennzeichnen und Ausdruck von Zusammengehörigkeit oder Abgrenzung sind. Eben diese Maximen enthalten Alltagstheorien und könnten als Grundlagen zu einer Theorie der Praxis dienen. In der Tat wäre es höchst interessant, diese Maximen zu untersuchen. Behr deutet dies selbst am Rande an, wenn er schreibt: „Es würde sich durchaus lohnen, solche Alltagsregeln einmal zu sammeln und zu systematisieren“ (S. 46, Anm. 29). Doch statt Max Weber stets in Verbindung mit Themen wie Bürokratie, Organisationstheorien und der Frage des Gewaltmonopols zu zitieren, könnte man aus seinen Schriften eine „Theorie“ entwickeln, die nicht nur die Maximen und somit das Handeln des Puritaners, des Kapitalisten oder des Konfuzianers beleuchteten, sondern auch das Handeln der hier entwickelten Typen wie den Schutzmann, den Widerstandsbeamten, den reflektierten Praktiker oder die typischen Mitglieder der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit.
Polizeikultur. Routine – Rituale – Reflexionen ist zweifellos eine gute und informierte Arbeit. Die in den verschiedenen Kapiteln bearbeiteten Themen ermöglichen einen anschaulichen Einblick in die Handlungsfelder der Polizei. Somit kann das Buch sehr gut als Lehrbuch eingesetzt werden. Zugleich bietet der bereits erwähnte Manifestcharakter eine Reflexion polizeilichen Handelns. Sie ist das Ergebnis einer Analyse von „cop culture“ und der Handlungsstrategien von Polizisten. Wenngleich die Handelnden ernst genommen werden, besteht die Gefahr einer solchen Theorie der Praxis gerade darin, dass die Theorie leicht in Vergessenheit gerät zum Besten der Praxis. Die Dispositionen der Handelnden (seien sie Polizisten und Polizeiforscher) werden dann nicht mehr in einem (historischen) Feld objektiviert. In solchen Momenten unterscheidet sich der Polizeiforscher nicht weiter vom „reflektierten Praktiker“. Durch seine Beleuchtung von Internationalisierungseffekten innerhalb der deutschen Polizei, ihrer Integration von Migranten usw. bietet das Buch zugleich einen interessanten Einblick in die institutionelle Dimension des Europäisierungsprozesses.