Obwohl die Religionsfreiheit ein Grund- und Menschenrecht darstellt, wird die Ausübung religiöser Praktiken aus verschiedenen Gründen häufig beschränkt oder verboten. Damit wird eine Grenze zwischen der religiösen Mehrheit und der religiösen Minderheit in einer Gesellschaft gezogen, welche soziale Exklusionslinien markiert und legitimiert. Da in demokratisch verfassten Staaten Religionsfreiheit im Allgemeinen als persönliches Grundrecht garantiert wird, lassen sich die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche nicht ohne weiteres verbieten. Um die Einschränkung dieses Grundrechts dennoch legitimieren zu können, spielt das Kriterium «Kultur» eine entscheidende Rolle. Mit dem Argument des kulturellen Unterschieds werden die religiösen Gebräuche, welche die Mehrheit einer Gesellschaft nicht akzeptieren kann, abgelehnt. Solch eine kulturelle Grenzziehung kommt nicht nur in undemokratischen Ländern, sondern, wie die Ereignisse in der Schweiz zeigen, auch in demokratischen Ländern vor. Im November 2009 sprach die Mehrheit der Schweizer sich in einer Volksabstimmung gegen den Bau von Minaretten aus. Das Resultat, dass die Mehrheit der Schweizer der Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» gegen den Willen des Bundesrates und des Parlaments zustimmte, wird von der internationalen Gemeinschaft als überraschend und problematisch wahrgenommen. Die Antragsteller der Abstimmung verteidigen sich gegen den Vorwurf der Diskriminierung mit dem Argument, dass die Anti-Minarett-Initiative sich nicht gegen den Islam als Religion richte, sondern der Abwehr eines «religiös-politischen Macht- und Herrschaftsanspruches» diene. Die Diskussion um das Verbot, seine Ursachen und möglichen Auswirkungen hält bis heute an. Die Argumente für und wider das Verbot beziehen sich dabei in der aktuellen Diskussion fast ausschließlich auf die Gegenwart der Schweiz und das historisch relativ neuartige Phänomen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohung durch den Islam. Die historische Perspektive wird dabei meist nicht berücksichtigt. Die Dynamik der Diskussion und ihr Verlauf lassen sich jedoch nicht verstehen, ohne den historischen Kontext einzubeziehen. Wenn man auf die Geschichte der Schweiz zurückblickt, stößt man auf ein vergleichbares Ereignis, nämlich das Schächtverbot von 1893. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Judenemanzipation – vor allem in rechtlicher Hinsicht – weit vorangeschritten. Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie das Recht auf die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen waren durch die Artikel 49 und 50 der Bundesverfassung von 1874 gewährleistet. In den gleichen Zeitraum fällt die hier zu behandelnde Volksabstimmung über das Schächten. Das Schächten, die jüdische Schlachtmethode, wurde als Ergebnis dieser Volksabstimmung verboten und das Schächtverbot in der Bundesverfassung verankert. Seitdem ist das Schächten in der Schweiz verboten und dieses Verbot gilt heute noch. Die Entscheidung in der Schächtfrage führte von Beginn an zu Konflikten zwischen den Juden in der Schweiz und der nichtjüdischen Schweizer Bevölkerung. Welchen Stellenwert die schweizerischen Juden der Schächtfrage beimaßen, zeigt sich beispielsweise in der Gründung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) im Jahr 1904. Dieser Bund wurde mit dem ausdrücklichen Ziel, gemeinsam auf der Bundesebene gegen das Schächtverbot zu kämpfen, gegründet. Demgegenüber lehnt die Mehrheit der nichtjüdischen Schweizer Bevölkerung die Praxis des Schächtens bis heute als grausam und nicht tolerierbar ab. Deutlich wurde diese Haltung im Jahr 2001/2002, als der politische Versuch der Bundesregierung das Schächtverbot aufzuheben am Widerstand der Bevölkerung scheiterte. In der vorliegenden Abhandlung beschäftige ich mich mit den folgenden zwei Fragen. Erstens beschreibe ich den Verlauf der Debatte um das Schächtverbot in der Schweiz aus historischer Perspektive. Dabei geht es mir vor allem darum, herauszuarbeiten, inwiefern das Schächten (als religiöse Praxis) in der schweizerischen Gesellschaft problematisiert wurde und wird und wie stark die schweizerische Gesellschaft gegen diese Kultur einer Minderheit eine Abneigung hegte und immer noch hegt. Zweitens beschäftige ich mich mit der Frage, warum das Schächten im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Schweiz verboten wurde. Abschließend möchte ich als Schlussfolgerung aus dem Fall des Schächtverbots zwei Thesen in Bezug auf die kulturelle Grenzziehung vorschlagen. Das Schächten ist eine …
Die Hegemonie der Mehrheit in einer multikulturellen GesellschaftUnter besonderer Berücksichtigung des Schächtverbots im Jahr 1893 in der Schweiz[Record]
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Yoko Akiyama
Zentrum für Deutschland- und Europastudien, Universität Tokyo, Komaba (DESK)
akiyama@desk.c.u-tokyo.ac.jp